Eins: Rote Gefahr
Die Luft schmeckte nach Winter. Trotzdem war Diablo mit dem Motorrad gekommen, hatte ihre Mistral am Bahnhof „Sternschanze“ abgestellt und war den Rest der Strecke zu Fuß gegangen. Die Maschine hätte sie ohnehin nur behindert. Der Treffpunkt mit ihrem Team lag im Zentrum des gleichnamigen Hamburger Szeneviertels, und dieses verwandelte sich ab Freitagabend zu einer Partymeile für das feierwütige Volk. Alle Straßen waren für den motorisierten Verkehr gesperrt, und selbst die despektierlich „Poldis“ genannten Mietbullen der Polizeilichen Dienstleister waren gezwungen, ihre Streifen zu Fuß zu absolvieren. Was in der Regel bedeutete, dass sie ihre Aufgabe nicht allzu ernst nahmen, weil sie sich in dem seit jeher alternativ-liberal angehauchten Stadtteil ohne die Panzerung ihrer schweren SUVs einfach unsicher fühlten.
Es war kalt in der Hansestadt, passend zum beginnenden Dezember. Dampf stand über den Betonplatten, unter denen sich die Rohre des Hamburger Fernwärme-Netzes verbargen. Sie hielt inne und legte den Kopf in den Nacken, spähte zwischen den mehrstöckigen Mietshäusern hindurch nach oben. Erwartete fast, Sterne zu sehen, aber die Straßenbeleuchtung und die vielen bunten Lichter der Lokale, Geschäfte und Spielhallen verwandelten den Himmel in ein pechschwarzes Band.
Irgendwas an dem Anblick erzeugte eine gewisse Melancholie in ihr. Draußen auf Eiderstedt waren die Sterne immer zu sehen, und die einzige andere künstliche Lichtquelle war der Leuchtturm von Westerhever. Sie spürte dieses sanfte Ziehen der Sehnsucht nach ihrem Haven. Ihrer Heimat. Der Heimat der Straßenkinder. Keine anonyme Großstadt, sondern eine eingeschworene Gemeinschaft.
Der Grund, aus dem sie hier war. Arbeiten, für den Haven.
Mit einem Seufzen zwang sie sich, in das Hier und Jetzt zurückzukehren. Konzentrierte sich wieder auf den direkt in ihren Sehnerv projizierten Ariadnefaden ihres Navigationssystems. Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Lederjacke und zog die Schultern hoch, während ihr Atem in dünnen Wölkchen kondensierte. Wäre sie in Begleitung gewesen, hätte sie gut und gerne als eine der vielen Frauen durchgehen können, die hier den Freitagabend verbrachten und Spaß hatten. Stattdessen wirkte sie allein, beinahe einsam zwischen all den kleinen Gruppen.
Die Freelancerin ließ sich von der Menge treiben, nahm die unsichtbaren Muster in ihren Bewegungen in sich auf. Laute Musik, Lachen und Gesprächsfetzen bildeten ein akustisches Grundrauschen, in dem ungewöhnliche Geräusche ohne ihre geschärften Sinne einfach untergegangen wären. Ihr taktisches Implantat identifizierte das Geräusch einer zerbrechenden Glasflasche und stufte es als niedrige Gefahr an. Wo Alkohol floss, ging ständig irgendwas zu Bruch.
Die Seitenstraße duckte sich zwischen zwei Altbauten, zu schmal, als dass ein größeres Fahrzeug hindurch gepasst hätte. Sie musste sich durch eine Gruppe junger Männer drücken, die an die Mauern gelehnt einen Joint kreisen ließen. Gelächter und Pfiffe folgten ihr, dann versiegte der Lärm der Hauptstraße, wurde zu einem murmelnden Bach, der schnell in den Hintergrund rückte. Hierher kam das Partyvolk nicht, bestenfalls verirrte sich mal ein Betrunkener in diese Gasse, um gegen eine der Wände zu pinkeln oder zu kotzen – und nicht immer nur eins von beidem. Der scharfe Geruch von Pisse und der beißende Duft von ranzigem Frittenfett kämpften darum, wer ihre Nase schlimmer beleidigen durfte.
Isa wartete bereits auf sie. Ihre Partnerin stand an einem wackeligen Campingtisch und wischte auf ihrem Mobiltelefon herum. Der Tisch gehörte zu einem Imbiss, welcher aus dem Küchenfenster einer Mietwohnung heraus operierte und garantiert weder eine Lizenz noch ein Gesundheitszeugnis vorweisen konnte. Ein an Schlichtheit nicht zu überbietendes LED-Schild über dem Fenster blinkte ein serifenloses, blaues „Lola’s Grill“ in die Nacht hinaus, inklusive Deppenapostroph.
Diablo nickte ihrer Partnerin kurz zu, dann trat sie an das Küchenfenster und bestellte was zu trinken. Die Frau in der Küche kassierte missmutig die Plastikmünzen und reichte ihr dann grußlos die Glasflasche mit alarmorangefarbener Limonade nach draußen. Mit der Flasche in der Hand trat sie zu Isa an den Campingtisch.
„Leutnant“, sagte diese und hielt ihr zur Begrüßung die Faust hin.
Sie stieß ihre eigene Faust dagegen und erwiderte den Gruß: „Cowgirl. Du sollst mich nicht so nennen.“ Schlug den Kronkorken von der Flasche und beeilte sich, den aus dem Flaschenhals drängenden Schaum abzutrinken. „Schmeckt genauso mies wie sie aussieht.“
Isa zuckte die Schultern und steckte das Smartphone weg. Trotzdem konnte Diablo einen Blick auf das Display erhaschen. Interface einer Dating-App, meldete ihr taktisches Implantat indiskret. Sie schob den Gedanken beiseite.
„Wahrscheinlich das einzig überhaupt ansatzweise genießbare hier“, sagte Isa. „Der Laden riecht, als wär er das letzte Mal von der Großen Sturmflut feucht durchgewischt worden.“
„Wo sind die Kerle?“, fragte Diablo, weil sie spürte, dass ihr flau wurde. „Wir hatten acht Uhr ausgemacht.“
Erneutes Schulterzucken. „Hattest du Pünktlichkeit von denen erwartet? Bei der Einsatzbesprechung haben die sich auch nicht grad mit Lorbeeren bekränzt. Deine Worte, wenn ich dich erinnern darf.“
„Ich weiß. Big Boss setzt uns seine Amateure vor die Nase, weil er uns nicht traut, und wir dürfen Kindergärtner spielen. Wie jedes elende Mal.“ Diablo schnippste mit dem Zeigefinger gegen die Limonadenflasche. Ihr metallener Finger entlockte dem Glas ein klares Klirren. „Hatte gehofft, dass wir den Gig mal halbwegs problemlos über die Bühne kriegen. Hab noch andere Verpflichtungen heute.“
Isa musterte sie, sprach die Frage, die ihr eigentlich auf den Nägeln brannte, aber nicht aus. Sie hatten dieses stille Einverständnis: Diablo durfte sich über den Haven ausschweigen, wenn sie im Gegenzug Isa nicht mit Fragen nach ihrer Beziehung löcherte. War auch gar nicht notwendig. In den letzten Wochen war, was immer zwischen Isa und ihrem Noch-Nicht-Ex Christian lief, zunehmend in Schieflage geraten. Diablo vermutete, dass ihre Freundin sich vor allem so heftig in die Arbeit warf, um dem Milchbrötchen entkommen zu können.
Isa riss sie aus den Gedanken. „Sie sind da.“
Sie drehte sich um und schaltete die Lichtverstärkung in ihren Augen ein. Sah Niklas und Kolja, die sich gerade zwischen den Typen mit dem Joint durch schlängelten. Kolja blieb kurz stehen, grüßte die Kiffer per Handschlag und nahm dann einen Zug von der Kippe.
„Dämliches Arschloch“, murmelte sie ärgerlich. Das miese Gefühl, das sie hatte, seit Big Boss ihr die beiden Hohlladungen bei der Einsatzbesprechung vor die Nase gesetzt hatte, verstärkte sich. Kolja hatte sich ab dem ersten Satz viel zu wichtig genommen. Und Niklas war klar die Unschuld vom Lande, zum ersten Mal bei einem Gig dabei und weit außerhalb seiner Komfortzone. Alleine sein Blick, als sie nach der Notwendigkeit von Waffengewalt gefragt hatte, hatte ihr alles gesagt. An Isa gewandt flüsterte sie: „Wenn die beiden uns den Gig versauen, dreh ich sie eigenhändig durch den Wolf.“
Ihre Freundin schnaubte amüsiert. „Vergiss nicht, dass ich die beiden Herzchen an der Backe habe. Du liegst wie üblich auf einem Hausdach und guckst dir die Show aus der Ferne an.“
„Man, ich hasse es einfach, mit einem miesen Bauchgefühl in den Gig einzusteigen, Isa“, sagte sie. Ihr Bauchgefühl hatte ihr oft genug den Arsch gerettet. Damals in Berlin, als sie Offizierin im Konzernkrieg war.
Niklas hatte ihren Tisch zuerst erreicht. Isa nickte ihm knapp zu, und er hob schlaksig die Hand zum Gruß. Dann vergrub er sie wieder in den Taschen seiner College-Jacke. Er sah irgendwie unglücklich aus, wie ein Golden Retriever, dem jemand das Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Kein gutes Zeichen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Diablo beiläufig, aber ehe Niklas antworten konnte, war auch Kolja herangekommen und brüllte ihnen ein „Hallo Ladies!“ entgegen. Er trug ein Basketball-Jersey und Silberschmuck, eine dicke Gliederkette und mehrere Ringe. Sollte wahrscheinlich tough wirken, nach Mitglied einer Straßengang. Mit der rechten Hand fummelte er am Griff einer kleinen Automatik herum, die vorne in seinem Hosenbund steckte.
Isa deutete mit einem Kopfnicken auf die Knarre. „Wenn du dich nicht versehentlich entmannen willst, parkst du das Ding besser zwischen deinen Arschbacken.“
„Mach dich mal locker“, polterte er. Alles an ihm war laut, registrierte Diablo mit einem Stirnrunzeln, wahrscheinlich konnte er gar nicht subtil vorgehen. Er hatte ihren Missmut nicht bemerkt und fuhr fort: „Bist du Blockwart aufm Schießstand oder was?“
Isa schob das Revers ihres Dusters beiseite und gewährte ihm einen Blick auf den Perlmuttgriff ihrer 45er. Der Trommelrevolver steckte in einem Schulterhalfter, das ordnungsgemäß verschlossen war. Dann zog sie den Mantel wieder zusammen. „So was ähnliches. Also lass die Scheißknarre verschwinden, ehe irgendwer auf dich aufmerksam wird. Himmelherrgott.“
Diablo stellte die Flasche auf dem Plastiktisch ab, legte bewusst etwas mehr Wucht in die Geste als nötig. Das Geräusch setzte einen wirksamen Schlusspunkt unter Isas Kritik, und die anderen blickten sie nun erwartungsvoll an.
„Idealerweise brauchen wir die Dinger heute nicht“, sagte sie leise, aber mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. „Wenn Menschen plötzlich mit Waffen herum fuchteln, endet das nämlich in der Regel nicht gut. Also“, wandte sie sich an Kolja, „wäre ich dir verbunden, wenn du dir ein Beispiel an Cowgirl nimmst und deine Pistole vernünftig sicherst.“ Er plusterte sich auf, also setzte sie den Blick auf, den sie als Kommandantin in Berlin stets genutzt hatte. Mit zu Schlitzen verengten Augen beugte sie sich in seine Richtung vor. „Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“
Wirkte nicht nur bei den Kids im Haven. Kolja schrumpfte sofort zwei Nummern. Er sortierte seine Waffe nach hinten, zog seine Jacke drüber und murmelte etwas, das verdächtig nach „ausgerechnet mit Pazifisten“ klang. Aber er hielt endlich mal die Klappe.
Isa durchbrach die peinliche Stille, die nach Diablos klarer Kante entstanden war. Mit einem Kopfnicken in Richtung des Küchenfensters sagte sie: „Lasst uns die Planung schnell über die Bühne bringen, ehe die liebreizende Lola uns hier vertreibt. Ihr habt den Zeitplan, Niklas?“
Der Angesprochene zuckte zusammen, als der Fokus des Gesprächs plötzlich auf ihm lag. „Äh, ja“, stammelte er, holte kurz Luft und rezitierte: „Unsere Zielperson geht üblicherweise freitagabends mit ihrem Output ins Mamonaku, das ist ein Running Sushi etwa einen Block von hier. Die paar Mal, bei denen ich sie beobachtet habe, waren sie nur zu zweit da.“
„Warst du mal drin? Wie sieht da der Grundriss aus?“, übernahm Diablo das Gespräch und warf einen beiläufigen Blick zu Kolja, der jetzt, wo er nicht mehr im Mittelpunkt stand, stumm vor sich hin schmollte. Die Augen auf seine teuren Marken-Sneaker gerichtet und den Unterkiefer leicht vorgeschoben wirkte er mehr wie ein ertappter Teenager.
Niklas nestelte ein kleines Tablet aus der Gesäßtasche seiner Jeans und entfaltete es geschickt auf die Größe einer Schreibmaschinenseite. Auf dem papierdünnen Display erschien ein hastig hingeschmierter Plan. Er tippte die einzelnen Bereiche mit dem Finger an und erklärte: „Großer Gastraum mit einem zentral angebrachten Laufband für Sushi. In der Mitte arbeiten die Köche, sie kommen auch nach hinten in den Küchenbereich. Hier gibt es eine Hintertür zu den Gästetoiletten. Durch die kann man, wenn man durch die Küche geht, in den Hinterhof gelangen.“ Er blickte auf. „Hab einen der Sushiköche mal beobachtet, wie er für eine Raucherpause hinten raus ist.“
„Gute Arbeit“, sagte sie mit Anerkennung in der Stimme. Dann deutete sie auf den Hinterausgang. „Der Innenhof, gibt’s da noch andere Durchgänge oder ist das eine Sackgasse?“
Er schnippste die Skizze beiseite und rief eine Luftaufnahme des Häuserblocks auf. „Die meisten Mietshäuser hier im Viertel haben Hinterausgänge, aber es gibt auch eine Toreinfahrt auf der gegenüberliegenden Seite, die auf die Parallelstraße führt.“
Sie nickte und blickte zu Isa. „Cowgirl?“
Ihre Freundin saugte an der Unterlippe, die Stirn in Falten gelegt. Dann sagte sie: „Könnte passen. Wenn unsere Zielperson aufs Klo geht, können wir sie dort einkassieren und durch die Hintertür raus bringen. Ist aber mit Risiko verbunden, weil man vom Gastraum in die Küche blicken kann. Und ich glaub nicht, dass sie friedlich mitkommen wird. Ihr Macker merkt dann sofort, dass sie entführt wird.“ Sie wandte sich den Männern zu. „Traut ihr euch zu, ‘ne Ablenkung zu inszenieren?“
„Klar, sicher“, sagte Niklas wenig überzeugt, aber Kolja kam ihm überraschend zur Hilfe und ergänzte: „Im Zweifel mach ich dem Typ ‘ne Szene und kacke ihn an, dass er mir meine Lieblings-Nigiri vor der Nase weggeschnappt hat oder so. Laut sein kann ich ja“, setzte er mit einem Grinsen in Diablos Richtung hinzu. Die zog lediglich eine Augenbraue nach oben. Mehr war nicht nötig. Ihr Blick zerfetzte wortlos sein gerade erst wieder erstarkendes Ego.
„Oder wir tun so als wären wir bloß Zuschauer mit mehr Zivilcourage als Verstand“, schlug Niklas vor. „Stehen ihrem Output im Weg und behindern ihn oder so.“
„Wenn’s dabei möglichst keine Verletzten oder Toten gibt, wär das Sahne. Big Boss zahlt nicht für beschädigte Ware.“ Isa wandte sich Diablo zu. „Was denkst du, Leutnant?“
Die nickte knapp. „Guter Plan soweit. Denkt aber dran, dass die meisten Läden Panik-Buttons haben. Achtet also drauf, dass das Personal seine Finger bei sich behält. Sonst haben wir blitzschnell ein Zeitproblem. Die paar Minuten Reaktionszeit der Poldis reichen nicht, um die Zielperson aus dem Sektor zu schaffen.“
„Was ist mit dir?“, fragte Isa. „Wo willst du Posten beziehen?“
Sie zuckte die Schultern. „Entscheide ich spontan.“
Pläne waren eine Sache. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass persönliche Aufklärung durch nichts zu ersetzen war. Es gab immer Zeug, das einen guten Plan durcheinanderbringen konnte. Ein abgeschlossener Notausgang. Ein Obdachloser, der an der falschen Stelle ein Nickerchen machte. Ein Haufen Sand, der zwei Tage vorher noch nicht da gewesen war. Die neugierige Oma hinter der halb geöffneten Gardine.
Sie richtete sich auf und stieß sich vom Campingtisch ab. „Ich werde mal vorgehen und mir den Block genauer ansehen. Sicherstellen, dass ihr auch wirklich hinten raus kommt. Cowgirl hat meine Telefonnummer. Wenn alles glatt geht, treffen wir uns in einer halben Stunde am Bahnhof und bringen die Zielperson per S-Bahn hier raus.“
„Lass dich nicht umbringen“, sagte Isa und meinte es auch so.
Sie hob die Hand, wie um ihre Freundin zu beruhigen, dann verfiel sie in einen leichten Trab die Gasse hinunter. Die Limoflasche ließ sie einfach stehen; irgendein Obdachloser würde sich über die paar Cent Pfand freuen.
Die Menge war dichter geworden, sie nahm die Freelancerin in sich auf wie eine freundliche Umarmung. Während sie sich von der Strömung der Menschen treiben ließ, legte sie einen neuen Ariadnefaden in ihr Blickfeld, der sie diesmal zum Sushi-Restaurant führte. Dann setzte sie ein fröhliches Lächeln auf und versuchte, möglichst unauffällig mit den anderen jungen Menschen zu verschmelzen. Was, realistisch betrachtet, wahrscheinlich gar nicht notwendig war. Selbst in Betracht ziehend, dass sie an einem Freitagabend alleine auf der Sternschanze unterwegs war, würde sie keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es gab immer vereinzelt Leute, die alleine unterwegs waren. Gekommen von. Auf dem Weg nach.
Sie erlaubte ihren Gedanken, auf Wanderschaft zu gehen, während sie die Strecke zum Mamonaku mit ihren Schritten zerhackte. Ließ diese wundersame Mischung aus Bazar und Vergnügungs-Viertel auf sich wirken, zu dem die Schanze in den letzten Jahren geworden war. Klassische Mischnutzung einer deutschen Großstadt, die sich in den 50ern und 60ern des letzten Jahrhunderts hatte neu erfinden müssen, traf hier auf hochmoderne Architektur, Altbau-Fassade auf Neonreklame und LED-Werbetafel im Großformat. Von Freitagabend bis Sonntag in der Früh schwieg auch der größte Spießer, egal wie laut die Musik, wie penetrant die digitalen Geräusche der Spielhallen hier die Nacht zum Tag machten. Selbst ein so alternatives Viertel wie dieses hatte sich der Kommerzialisierung der Welt nicht vollends widersetzen können. Sogar der größte Punk brauchte den Supermarkt an der Ecke, wenn er nicht verhungern wollte.
Das Sushi-Restaurant war im Erdgeschoss eines mehrgeschossigen Altbaus untergebracht. Hohe Glasfassaden, schnörkelloser Schriftzug über der Tür. Kaltes Neonlicht ließ die weiß lackierte Inneneinrichtung mit den makellosen Fliesen noch klinischer wirken. Mehr wie ein OP-Saal als ein Lokal, in dem man länger verweilen wollte. Um das zentral angeordnete Laufband für das Running Sushi standen Hocker, die gut besetzt waren, und an den seitlichen Wänden erkannte Diablo Sitznischen, in denen Gäste vermutlich á la Carte bestellen konnten, wenn ihnen die mechanisierte Parade von rohem Fisch und Klebereis nicht zusagte. Trotz des Personals drängte sich unweigerlich der Begriff des Automatenrestaurants auf.
Um nicht aufzufallen, blieb sie vor dem Schaufenster eines Buchladens stehen, der dem japanischen Restaurant gegenüber lag. Holz und warmes Licht lockten hinter dem mit Kunstschnee aus der Sprühdose verzierten Schaufenster, krasser Gegensatz zur beinahe brutalistischen Modernität der Sushi-Bude. Die Auslage war von jemandem gestaltet worden, dem Diablo anstandslos glaubte, dass in seinem Leben das gedruckte Wort noch einen gewissen Stellenwert genoss. Auf dunkelrotem Stoff präsentierten sich Bildbände, Kinderbücher und Romane, verhießen bunte Umschläge Welten voller Abenteuer und Wissen. Sie las die Titel mit einer gewissen distanzierten Neugierde. Sie hatte nie viel gelesen, aber die Kinder mochten, wenn ihnen vorgelesen wurde. Es beruhigte die Albträume und schenkte ihnen Schlaf, wenn sie sich in den Geschichten verlieren konnten.
Wäre nur schön gewesen, wenn sie das irgendwann mal selbst hätten lernen können. Aber den Luxus gab es im Haven nicht. Was die Jugendlichen, die noch eine Schulbildung genossen hatten, ehe sie abgehauen waren, nicht an die Jüngsten weitergaben, lernten diese nicht. Und Lesen, Schreiben und Rechnen standen bei Straßenkindern auf der Liste nützlicher Skills ziemlich weit unten.
Sie zwang sich, ihren Fokus auf die Reflexion des Sushi-Restaurants in der Scheibe zu lenken. Ihr taktisches Implantat glättete automatisch ihre Wahrnehmung, sodass das verschwommene Spiegelbild in der Doppelverglasung der Buchhandlung kristallklar hervortrat. Keine Sekunde zu spät: auf der anderen Seite betraten die Zielperson und ihr Output gerade das Restaurant. Aber diesmal waren sie nicht alleine. Zwei große Kerle in schwarzen Bomberjacken trotteten hinter ihnen her.
Diablo unterdrückte einen Fluch und zog ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche. Schickte Isa eine kurze Nachricht, dass das Pärchen in Gesellschaft aufgeschlagen war. Dann steckte sie das Gerät wieder weg und riss sich endgültig von dem Anblick der Bücher los.
Zwei Querstraßen vom Mamonaku entfernt fing der Teil der Sternschanze an, in dem sich Call Shops und Elektronikfachgeschäfte aneinanderreihten und der von den Bewohnern liebevoll „Digitalistan“ genannt wurde. In einem kleinen Laden voller chinesischem Elektro-Ramsch und uralten Spielkonsolen kaufte sie eine kleine Kameradrohne und quatschte den Pakistani hinter der Theke so lange zu, bis der ihr einen voll geladenen Akkublock und einen Software-Splitter für ihre künstlichen Augen kostenlos oben drauf legte.
Sie chippte das Programm über das Lesegerät hinter ihrem Ohr ein und machte sich auf den Rückweg zum Restaurant. Als sie am Eingang vorbeiging, konnte sie weiter die Straße rauf ihre Teammitglieder sehen. Würde noch ein paar Minuten dauern, bis Isa und die Typen hier ankamen. Zeit genug, sich eine schöne Position zu suchen, von der aus sie alles im Blick behalten und die Show koordinieren konnte.
Neben der Sushi-Bude gliederte sich eine Spielhalle an, untergebracht in einem dieser modular ausgelegten Zweckbauten, die man nach der Großen Sturmflut ohne Rücksicht auf die Stadtästhetik in viele verfügbare Baulücken gepflanzt hatte. Das Teil wirkte mit seiner Verkleidung aus Aluminium-Wellblech so deplatziert als habe irgendwer hier ein Raumschiff notgelandet. Im Eingangsbereich standen mehrere Pachinko-Automaten und buhlten mit grellen Lichtern, hektischem Gebimmel und gelegentlichen japanischen Sprachfetzen um die Aufmerksamkeit der Passanten. Eine im Ganguro-Stil gekleidete Teenagerin fütterte eine der Maschinen mit Stahlkugeln, während ihre wasserstoffblonden Zöpfe im Rhythmus des allgegenwärtigen Asiapops hin und her wippten.
Diablo checkte die Karte; das Ding verband diese Straße mit der Parallelstraße. Die Besitzer waren demnach wahrscheinlich einen gewissen Durchgangsverkehr gewöhnt, wenn das Volk durch ihr Etablissement abkürzte. Sie schlängelte sich zwischen den Automaten hindurch und tauchte in das Halbdunkel der Arcade ein, ließ das Ambiente auf sich wirken.
Die Lautstärke im Inneren war ohrenbetäubend, eine schrille Kakophonie digitaler Geräusche, die sich gegen auf Anschlag hochgedrehten EDM durchzusetzen versuchten. Laser-Spots erzeugten epileptisch zuckende Lichtspiele auf dem gefliesten Boden, dessen unruhiges Muster einen Anflug von Vertigo auslöste. Klassische Arcade-Maschinen und Flipper säumten eine große Freifläche, auf der dicht gedrängt mehrere Tische für Billard und Airhockey standen. Ein Typ mit gegelten Haaren versuchte sich an einem Greifarm-Automaten, während sein Freund aufgeregt auf ein besonders hässliches Plüschtier in der Glasbox deutete.
Ihr Blick wanderte zum Tresen, hinter dem der einzige Bedienstete auf einem hohen Barstuhl hockte, sein Kopf halb unter einer großen VR-Brille verborgen. Unwahrscheinlich, dass er bei diesem Krach viel von dem mitbekam, was um ihn herum passierte. War auch gar nicht nötig, denn die überteuerten Süßigkeiten und die labberigen Nachos in ihrem chemisch wirkenden Käsedip standen hinter Glas. Und der altmodische Geldwechselautomat war mit Sicherheit leer und nur deswegen nie abgebaut worden, weil er der Arcade einen Hauch von Geschichte gab, den das Ding niemals gehabt hatte.
Unmerklich beschleunigte die Freelancerin ihre Schritte. Um einen der Videospielautomaten nahe dem hinteren Ausgang hatte sich eine Gruppe junger Männer und Frauen geklumpt. Sie feuerten zwei ihrer Freunde an, die rittlings auf Plastik-Motorrädern hockten und scheinbar ein Rennen gegeneinander fuhren. Einer der Zuschauer stieß dabei einen gewachsten Pappbecher um, der unsicher auf dem riesigen Flachbildschirm balancierte. Ein halber Liter irgendeines Softdrinks ergoss sich auf den Boden. Flüche und Gelächter schwappten zu ihr rüber.
Dann war sie auf der anderen Seite wieder raus, stolperte leicht desorientiert in die Mitte der Straße und blieb einen Augenblick stehen. Suchte wieder die tiefe Schwärze des Himmels über ihrem Kopf, während das Klingeln in ihren Ohren langsam nachließ.
Die Menge teilte sich, floss um sie herum wie Wasser um einen Findling. Neugierige und spöttische Blicke, voller Vorurteile, dass sie ihr Limit nicht kannte oder auf Drogen war. Jemand berührte sie sanft an der Schulter. „Hey. Alles in Ordnung bei dir?“
Sie zuckte zusammen. Ihr Blick stellte sich wieder scharf. Ein junger Typ Anfang zwanzig blickte sie besorgt an. Er trug einen dunklen Anzug, das weiße Hemd halb aufgeknöpft, dazu knallrote Sneakers. Im Hintergrund tuschelte sein Freundeskreis.
Sie nickte und sagte: „Ja, die Arcade war nur ein bisschen viel. Zu eng und zu laut. Geht gleich wieder.“
„Kenn ich“, sagte er, „die Teile machen mich auch immer fertig.“ Ein kurzer Blick zu seinen Freunden, die sich anschickten, ohne ihn weiterzugehen. „Will nicht unhöflich klingen, aber kommst du klar? Soll ich dir jemanden rufen oder so?“
„Nein, passt schon. Bin mit Freunden hier.“ Sie schüttelte den Kopf. Setzte hinzu: „Danke.“
Er lächelte knapp, dann war er mit einer kurzen Geste verschwunden. Sie blickte ihm hinterher, dann schüttelte sie den letzten Rest Benommenheit ab und kehrte auf den Gehsteig zurück.
Die Toreinfahrt, die Niklas angesprochen hatte, klaffte als finster gähnender Schlund zwischen der Spielhalle und einem türkischen Herrenfriseur. Sie musste die Restlichtverstärkung in ihren Augen einschalten, um überhaupt etwas zu erkennen. Ein Gitter schnitt das Dämmerlicht, das in den Innenhof fiel, in schmale Streifen. Die Wände waren feucht, der Boden pockennarbig mit Schlaglöchern, in denen leptosome Grasbüschel wucherten. Unter der Decke hing eine einzelne Lampenfassung, aber die Neonröhre darin musste schon vor Ewigkeiten zerbrochen sein.
Sie straffte die Schultern und tauchte in die Dunkelheit ein, wobei sie sich den Anschein gab, hierher zu gehören. Das Gittertor war nur angelehnt; jemand hatte einen Ziegelstein dazwischen geklemmt, damit es nicht ins Schloss fiel. Sie drückte sich durch den Spalt, wobei sie sicherstellte, dass der Stein liegenblieb und sie sich nicht versehentlich den Rückweg abschnitt. Der Trubel des Viertels blieb hinter ihr zurück, auf der hell erleuchteten Straße.
Der Innenhof hatte grob die Form eines Pentagons. Vier Reihenhäuser zeigten Diablo stumm ihre Rückseiten, dutzende finsterer Fensterhöhlen, weil die Bewohner im Viertel unterwegs waren. Fast jedes Haus hatte einen Hinterausgang oder eine Kellertreppe. Irgendein Grünzeug rankte an den Fassaden hinauf. An den Wänden aufgereiht ein Patchwork deutscher Wohnkultur: Plastiktonnen in vier Farben für die sachgerechte Mülltrennung, ein uralter VW Jetta unter einer grauen Plane, eine Sandkiste mit achtlos gegen die Einfassung gelehnten Kinderfahrrädern und einem Bobbycar. Über dem Hinterausgang des japanischen Restaurants glühte eine altersschwache Vierzig-Watt-Birne und schälte ein Stillleben aus Getränkekisten, einem defekten Kühlschrank und einer Europalette mit Reissäcken aus dem Halbdunkel. Rechts schnitt die futuristische Außenwand der Arcade quer durch den Häuserblock, das ebenmäßige silbrig-grau der Aluminium-Verkleidung nur durch die Türflügel des Notausgangs unterbrochen.
Sie schaltete die Drohne ein und paarte sie mit ihrem Mobiltelefon, dann ließ sie den Flugkörper aus der Hand starten. Die Maschine stieg mit einem hohen Sirren in den Nachthimmel hinauf und setzte über den Dachrand der Spielhalle hinweg. Das grieselige Bild der billigen Kamera zeigte ein mit Bitumen-Schweißbahnen gedecktes Flachdach, aus dem in regelmäßigen Abständen die metallischen Pilze der Klimaanlage herausstanden. Eine vielleicht einen halben Meter hohe Attika fasste das Dach ein. Ein perfekter Beobachtungsposten, von dem aus sich beide Straßen und der Hinterhof im Auge behalten ließen, mit einem wie dafür geschaffenen Sichtschutz.
Diablo landete die Drohne auf dem Dach. Dann zog sie ihre Lederjacke aus, wickelte sie um die Hüfte und schob die Ärmel des Flanellhemds hoch, das sie darunter trug. Ihre metallenen Arme schimmerten mattschwarz im Dämmerlicht des Hinterhofes. Künstliche Muskelstränge spielten unter militärischer Panzerung, als sie die Handoberflächen nach oben drehte.
Der Anblick war Übelkeit erregend, erzeugte das bitter schmeckende Summen einer Dissonanz, nicht nur zwischen dem kalten Metall und ihrem eigenen Körper, sondern auch in ihrem Kopf. Erinnerungsfetzen kämpften sich aus ihrem Unterbewusstsein nach oben, an STEM EU, die ihr in Berlin die blutigen Stümpfe ihrer zerfetzten Arme aus den Schultern geschnitten und durch unmenschliches Metall ersetzt hatten, damit sie wieder an die Front konnte. Den Psychologen hatte man sich gespart, das Trauma unterdrückte die Software in ihrem taktischen Implantat.
Funktionierte nur immer beschissener.
Sie schob den Unterkiefer vor und holte tief Luft, dann befahl sie den in ihren Unterarmen eingelassenen Klingen, sich auszufahren. Sie konnte spüren, wie die künstliche Armierung auseinander fächerte, wie Myomere das Hebelwerk der Mantiden in Bewegung versetzten und über ihre Handrücken nach vorne hoben, bis die dreißig Zentimeter langen Klingen in der Angriffsstellung einrasteten. Lautlos schnitten sie durch das mentale Bollwerk, das sie gegen die Flashbacks errichtet hatte.
Um der aufkeimenden Panikattacke keinen Raum zu bieten, rammte sie die Klingen in die Metallfassade der Arcade und machte sich an den Aufstieg. Sie konnte den Zug ihres Körpergewichts an den Stellen spüren, wo die künstlichen Schultergelenke der Arme in ihrer Wirbelsäule verankert waren. Die Klingen waren nicht zum Klettern gedacht. Sie waren Waffen. Waffen, die dazu gedient hatten, Terror zu verbreiten und Weichziele zu töten.
Sie spürte die Tränen, die mit den Gedanken einher gingen. Biss die Zähne zusammen und saugte die kalte Winterluft ein. Zwang sich dazu, sich auf den Kraftakt zu konzentrieren. Als sie sich über den Rand des Flachdachs rollte, musste sie für mehrere tiefe Atemzüge auf dem Rücken liegenbleiben, ehe sie die Klingen wieder einfahren konnte.
Posttraumatische Belastungsstörungen waren eine Bitch.
Der Vibrationsalarm ihres Mobiltelefons tänzelte ein wütendes Stakkato gegen ihren Rippenbogen und riss sie so aus ihrer Abwärtsspirale. Sie blinzelte die Tränen weg und legte das Gespräch auf ihr taktisches Implantat. Es war Isa.
„Wir gehen jetzt rein“, sagte sie. „Soll ich dran bleiben?“
„Wenn du es unauffällig hinkriegst“, erwiderte Diablo und setzte sich auf. Die Drohne neben ihr erwachte zum Leben, während sie die Lederjacke wieder überzog.
Isa gab ein amüsiertes Schnauben von sich. „Jeder Dritte hier hat sein Smartie am Ohr. Glaub kaum, dass ich groß auffalle.“
„Pass auf dich auf.“ Sie routete den Kamerafeed der Drohne in ihren Sehnerv. „Hinten raus ist sauber, da sollten wir die Zielperson ohne größeres Aufsehen verschwinden lassen können.“
„Dann positioniere ich mich beim Gästeklo. Hoffen wir mal, dass die Jungs unsere Kontaktperson irgendwie nach hinten lotsen können.“
Das Klappern einer Tür war zu hören, dann verstummte das Gemurmel der Gäste und wich den Geräuschen einer Restaurantküche. Diablo identifizierte japanische Sprachfetzen, das rhythmische Klappern eines Messers und das Rauschen einer Spülmaschine. Unverwechselbarer White Noise, den aus einer Funkverbindung zu filtern sie schon früh gelernt hatte.
„Gestresst?“, fragte sie.
Isa knurrte etwas unverbindliches. Dann seufzte sie und sagte: „Immer, wenn wir mit zu vielen beweglichen Teilen spielen. Die Typen sind Risikofaktoren.“ Sie ließ offen, ob sie Niklas und Kolja meinte oder die Kerle in den Bomberjacken, die überraschend bei ihrer Zielperson waren.
„Weiß ich“, sagte sie. Biss sich auf die Unterlippe. Dann fuhr sie fort: „Hätte den Gig auch nie angenommen, wenn ich die Kohle nicht dringend bräuchte. Na ja, und ich hab dich vor allem mit rein gezogen, weil ich Big Boss kein Stück traue. Du bist mein Backup.“
„Schlägt in jedem Fall die Alternative“, sagte Isa. Diablo brummte zustimmend. Sie hatte Christian einmal getroffen und direkt als den wahrscheinlich langweiligsten Menschen identifiziert, der jemals aus dem Hamburger Soziotop hervor gekrochen war. Als Isa ihr dann erzählte, er sei eigentlich aus Hannover, war das in ihren Augen auch kein Argument zu seinen Gunsten gewesen. Aber es hatte ein paar Sachen erklärt.
Isa wollte also vor allem zuhause raus, wenn sie auf Gigs ging. Bei ihr selbst lag die Sache anders. Sie hatte in ihrem Leben nur zwei Wege kennengelernt: den des Konzernkriegers und den des Straßenkindes. Keiner davon machte sich sonderlich gut in einem Lebenslauf oder in einem Bewerbungsgespräch. Insbesondere wenn es darum ging, Geld für ein illegales Projekt zu verdienen, das schon ein nimmersatter finanzieller Schlund gewesen war, als sie es gegründet hatte. Der Haven verschlang Unsummen, und sie war von den Bewohnern so ziemlich die einzige, die überhaupt so etwas ähnliches wie ein Einkommen hatte. Gut, da war Dacapo, die Ärztin ihrer illustren Wohngemeinschaft, aber da diese weitestgehend pro bono arbeitete, hatte Diablo keinen blassen Dunst, wo die Medizinerin die Kohle für die ohnehin abysmal niedrige Miete herholte. Idealerweise hatte Dacapo einfach Rücklagen. Wollte sie aber eigentlich auch gar nicht so genau wissen.
Der Schuss kam glasklar über die Audioverbindung und zerfetzte den Gedanken. Die akustischen Filter in ihren Ohren regelten die Lautstärke runter. Gedämpft hörte sie, wie Isa fluchte: „Fucking shit!“
„Was ist los?“ Sie fuhr die Leistung ihrer Ohren wieder hoch. Befahl der Drohne, über die Einfassung des Flachdachs hinweg zu setzen und auf die Straße runter zu fliegen.
„Das war vorne, im Gastraum“, erwiderte ihre Partnerin. Sie konnte hören, dass Cowgirl den Hahn ihres Revolvers spannte. „Ich geh nachschauen.“
„Nein, bleib in Deckung. Ich schick meine Drohne runter.“
„Unsere Leute sind da drin, Diablo!“
Das Kamerabild der kleinen Flugmaschine schwenkte herum. Die Front des Mamonaku kam ins Blickfeld. Leute strömten aus der Eingangstür. Eine junge Frau wurde rücksichtslos von der Treppe gestoßen und ging mit einem Schrei zu Boden. Ein zweiter Schuss gellte. Panik machte sich breit. Dann ging eine der großen Scheiben zu Bruch. Diablo konnte bis auf das Dach der Spielhalle hören, wie Glassplitter auf Gehwegplatten regneten.
„Isa! Rede mit mir!“, forderte sie.
„Die haben Niklas erwischt!“, erwiderte ihre Freundin gepresst. „Fuck, man, der Job geht grad massiv tits up!“
„Hintertür“, befahl sie knapp, „und dann über den Innenhof. Nimm die Toreinfahrt, die führt auf die Parallelstraße. Da treffen wir uns.“
„Ich geh nicht ohne unsere Scheiß-Zielperson. Und ich will mit Kolja sprechen. Der Wichser soll mir erklären, was hier für ‘ne Scheiße läuft.“
„Herrgott, wieso spielst du immer die Heldin? Ich komm zu dir!“
Von der Straße drang das glasklare digitale Auf und Ab eines Panikalarms an ihr Ohr. Übertönte sogar die Schreie der fliehenden Menschen. Dann bläkte der Feuermelder des Gebäudes los, weil Isa sich doch bequemt hatte, die Hintertür des Restaurants aufzureißen und in den Innenhof zu kommen. Das Ding hatte sicher eine Direktverbindung zur Altonaer Feuerwache. Damit hatten sie jetzt ein Zeitlimit.
„Kolja ist bei mir, und er hat die Braut. Der Arsch hat sich auch ‘nen Streifschuss gefangen“, meldete Isa, dann nahm sie scheinbar das Mobiltelefon runter, weil die nächsten Worte gedämpfter über die Verbindung kamen: „Verdammt, hör auf zu zetern, sonst geb ich dir ‘nen Grund!“
Sie legte auf und sprintete los. Quer über das Dach der Spielhalle und zur Parallelstraße. Setzte mit einer fließenden Bewegung, die jeden Hürdenläufer neidisch gemacht hätte, über die Werbetafel der Arcade hinweg. Kam mit einer perfekten Superhelden-Dreipunktlandung auf dem Gehweg auf. Passanten spritzten auseinander, eine Chinesin kreischte erschreckt auf und erntete Lachen von ihrem Begleiter. Ein paar Leute rissen ihre Telefone hoch, um Fotos zu machen.
Am Torbogen traf sie auf die anderen. Isa hielt ihre 45er geschickt unter dem Duster verborgen. Koljas Schulter blutete. Trotzdem zog er die Zielperson hinter sich her und brachte es irgendwie fertig, dass es so aussah als habe sie zu viel getrunken und müsse sich von ihm stützen lassen.
„Wohin?“, fragte Isa.
Die Drohne flitzte im Zick-Zack-Kurs über ihren Köpfen, gab ihr einen Überblick über den Häuserblock. Es stimmte, was Niklas über die Sternschanze gesagt hatte. Das Viertel war von Hinterhöfen durchsetzt, dunkle Vielecke im farbigem Lichtermeer, wie Löcher in einem Patchwork-Quilt.
Sie deutete auf die andere Straßenseite. „Durch den Kiosk, dann über die Hinterhöfe. Wir müssen Abstand gewinnen.“ Wandte sich kurz Kolja zu, der immer noch ihre Zielperson am Arm hielt. „Nimm ihr das Telefon ab und wirf es da drinnen weg. Ich will nicht, dass die Poldis uns darüber orten können, wenn ihrem Output auffällt, dass sie in dem Chaos verschwunden ist.“
„Das wird euch gar nichts bringen!“, fauchte die Frau wütend. „Mattes findet euch eh, und dann nimmt er euch auseinander!“
„Komm, du hast jetzt Funkstille, Sventje“, erwiderte Kolja überraschend autoritativ. „Gibst du mir das Teil freiwillig oder muss ich an dir rumgrabbeln?“
Die Frau gab es ihm freiwillig. Ihre Blicke hätten ihn töten können.
Etwas klickte in Diablos Kopf, als das taktische Implantat zwei Puzzleteile zusammenfügte. Sie musste sich ermahnen, dass dazu jetzt keine Zeit war, dass nicht nur die Feuerwehr auf dem Weg hierher war sondern auch die Poldis. Nein, korrigierte sie sich, wenn Niklas wirklich in der Schießerei drauf gegangen war, dann würden echte Bullen kommen, mit echten Waffen und echten Befugnissen.
Sie übernahm die Führung, stieß den bedauernswerten Studenten hinter dem Verkaufstresen beiseite und bahnte sich den Weg durch die Hinterzimmer des Kiosk. Pappkisten mit Ware stapelten sich an den Wänden und spotteten jeglicher Unfallverhütungsvorschrift. Die Brandschutztür zum Innenhof war mit einem Holzkeil versperrt. Sie stemmte das massive Türblatt beiseite, und dann waren sie draußen, platzten geradewegs in eine Gruppe Männer, die um eine Shisha hockten. Sie ignorierten die wütenden Rufe auf Arabisch, die sie ihnen hinterher riefen.
Innenhof, Hintertür, Hausflur mit irgendeiner Geruchskombination aus gekochtem Kohl, kaltem Zigarettenrauch, Babypuder und Pisse, Vordertür. Dann über die Nebenstraße, irgendwie zwischen dem immer noch nicht abebbenden Strom feiernder Menschen hindurch und das ganze Spiel von vorn. Sie konnte das beinahe chemisch schmeckende Whelp-Geheul der Poldis über die allgegenwärtige Geräuschkulisse der Schanze hören. Schienen aber nicht näher zu kommen, also steckten sie mit ihren unnötig aufgemotzten SUVs wahrscheinlich in der Menge fest.
Die Drohne half ihnen, sich in dem Gewirr aus Hinterhöfen und Altbauten nicht zu verlieren. Drei oder vier Häuserblöcke später erreichten sie den Rand des Viertels, stürzten durch den letzten Hausflur auf die Stresemannstraße hinaus. Sie wurden gerade noch Zeuge, wie der Löschzug der Feuerwehr mit heulenden Sirenen vorbei flog.
„Da drüben ist das Kommissariat 16“, sagte Isa leise und stubste ihrer Zielperson mit dem Lauf der 45er in die Nierengegend. „Verhalt dich normal. Anderenfalls verpasse ich dir mit meiner Lady hier einen zusätzlichen Bauchnabel.“ Ein Blick zu Diablo, die bereits einen Ariadnefaden spannte. „Was ist dein Plan, Leutnant?“
„Bahnhof Holstenstraße“, antwortete sie knapp, „und dann mit der S-Bahn Richtung Innenstadt.“ Legte etwas mehr Schärfe in ihre Stimme und schenkte ihrem männlichen Begleiter einen forschender Seitenblick. „Ich hätte da nämlich ein paar Fragen an dich, Kolja.“
Diesmal hielt er ihrem Blick stand. Also wandte sie sich ab und übernahm wieder die Führung. Isa würde sich darum kümmern, dass ihre Zielperson keine Dummheiten machte.
Ihr Name war Sventje, korrigierte ihr taktisches Implantat. Und sie hatte nicht überrascht gewirkt, dass Kolja sie mit ihrem Namen ansprach. Im Gegenteil, alles an ihrer kurzen Interaktion deutete darauf hin, dass die beiden sich kannten. Was den ganzen Gig in ein völlig anderes Licht rückte.
Sie erreichten den Bahnhof ohne weiteren Zwischenfall. Die Menge war hier auf der Hauptstraße dünner, trotzdem gelang es ihnen, mit den Menschen zu verschmelzen. Diablo nutzte die Gelegenheit, ihre Drohne wieder einzusammeln. Als sie den Bahnsteig betraten, fuhr gerade eine S-Bahn ein. Die Türen öffneten sich und erbrachen einen Schwall Partyvolk auf die Plattform. Dann waren sie irgendwie im Inneren des Waggons, die Schiebetüren schlossen sich hinter ihnen, und der Zug setzte sich mit dem Wimmern altersschwacher Umformer in Bewegung.
Diablo trieb sie zu einer Sitzgruppe, die im toten Winkel der Überwachungskameras lag, und hieß Sventje und Kolja, am Fenster zu sitzen. Sie und Isa nahmen die Plätze am Gang, wodurch sie den beiden den Fluchtweg abschnitten. Ein kurzer Blickwechsel mit ihrer Freundin hatte genügt, um Isa mitzuteilen, dass sich die Lage geändert hatte.
Aus der Nähe wirkte die Frau älter als auf dem Foto, das Big Boss ihnen gegeben hatte. Mitte Dreißig vielleicht, blonde Haare in einem modischen Side Shave, dezentes Make-up über dunklen Augenringen. Silberne Veves waren direkt in die Haut ihrer Arme und Beine eingezogen. Keine Tattoos, sondern Implantate, echte Handarbeit aus einem marokkanischen Bodyshop. Ihre Klamotten unterstrichen den Stil, wirkten aber teurer als sie waren. Keine Fast Fashion, eher Stücke von einer der klassischen Modeketten, clever kombiniert. Sventje wusste, wie sie Präsenz erzielte.
„Das war verdammt knapp“, sagte Kolja, während er das Taschentuch wechselte, mit dem er den Streifschuss an der Schulter verdeckt hielt.
Isas Stirn zierte eine steile Zornesfalte. „Knapp? Niklas ist wahrscheinlich drauf gegangen, du Arsch.“
„Ja“, brach Diablo ihr Schweigen, „erklär uns doch mal, was da drin schief gelaufen ist. Und wenn du schon beim Erklären bist, Kolja…“ Sie beugte sich vor. „Ich wüsste ganz gerne, woher ihr beide euch kennt. In meinem Dossier war ihr Name nicht drin. Sventje, richtig?“
Er schien zu überlegen, ob Diablo eine Antwort wert war. Dann schüttelte er den Kopf, knurrte irgendwas unverständliches und drehte sich zum Fenster weg.
Diablo wandte sich der Zielperson zu. „Nur damit wir uns verstehen: sofern nicht einer von euch beiden anfängt zu reden, werden wir dich zu unserem Auftraggeber bringen, unseren Lohn kassieren und aus deinem Leben verschwinden. Was dort mit dir passiert, ist dann nicht mehr unser Problem. Wenn es also einen Grund gibt, wieso wir das nicht tun sollten, dann solltest du anfangen zu singen. Am Hauptbahnhof ist nämlich sonst Endstation für dich.“ Es klang nüchtern, wie eine Tatsachenfeststellung, der unterschwellig mitschwingenden Drohung zum Trotz.
Sventje schob den Unterkiefer vor, als wollte sie mauern. Dann ließ sie sich in die Polster der Sitzbank fallen. „Fuck!“ Ein giftiger Seitenblick zu Kolja. „Ja, ich kenne diese Hohlladung, okay? Ich kannte auch Niklas, und ja, ich weiß sogar, wer der Typ ist, zu dem ihr mich bringen sollt. Der dämliche Wichser, der euch bezahlt, ist mein Ex. Und die beiden Typen gehören zu seiner Truppe.“
„Interessante Art, seine Liebe für dich zu beweisen“, warf Isa ein. „Wo sind wir hier rein geraten? So ‘ne Art kinky Rollenspiel? Entführung aus dem Serail oder so?“
Kolja schüttelte den Kopf. Sagte, immer noch gegen die Scheibe gewandt: „Geht an sich gar nicht um die Braut, sondern um das, was sie mitgenommen hat, als sie weg ist. Geschäftsunterlagen.“
Sventje stieß ein knappes Lachen aus. „So kann man sich das auch schön reden!“ Sie senkte die Stimme. „Bambam pusht Drogen hier in der Kante, insbesondere an den Schulen und in Jugendclubs. Sein großes Ding ist eine Mischung, die ‚Rote Gefahr‘ genannt wird.“
„Habe ich von gehört.“ Isa nickte. „Ist ein MDMA-Derivat, das mit etwa zwanzig Prozent Crystal vermengt und rot eingefärbt wird. Sehr beliebt bei Teenagern und jungen Studierenden. Aber hohe Wahrscheinlichkeit, versehentlich zu überdosieren. Teufelszeug.“
Diablo konnte spüren, dass ihr Magen einen Salto schlug. Wenn Kinder in Gefahr gerieten, übertaktete ihr Beschützerinstinkt. Sie sog die unangenehm warme Luft durch die Zähne ein und fragte: „Ich hoffe, dass du vor allem von ihm weg wolltest, weil er sein Zeug an Jugendliche verkauft. Nur das mit den Daten verstehe ich noch nicht.“
Diesmal war es an Kolja, amüsiert zu schnauben. Er löste den Blick von dem mit Edding hingeschmierten Tag, auf das er sich konzentriert hätte als sei es die spannendste Sache der Welt. Seine Augen hefteten sich auf Sventje. „Die Tussi hat doch jahrelang glänzend von dem Drogengeld gelebt. Los, erzähl den beiden doch mal, wie du deine schicken Veves finanziert hast. Scheinheilige Schlampe.“
Sventje wäre ihm fast ins Gesicht gesprungen. „Er schneidet den Dreck mit Fentanyl, du dummer Wichser!“
Kolja entschied, sein Todesurteil zu unterschreiben. Mit einem lakonischen Schulterzucken sagte er: „Gibt keine bessere Kundenbindung.“
Das miese Gefühl in Diablos Bauch nahm zu. Sie ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten, konnte spüren, wie die Myomere in ihren künstlichen Armen summten. Wie sie die Mantiden ausfahren und Kolja aufschlitzen wollten. Es wäre so einfach gewesen. Ihre Kiefermuskeln verkrampfen sich, während sie gegen den Impuls ankämpfte.
Isa hatte es gemerkt. In einer fließenden Bewegung griff sie Kolja an seiner fetten Silberkette und riss ihn zu sich herüber. Zischte: „Wenn du nicht aus dem Zug und in die Außenalster fliegen willst, hältst du jetzt besser die Fresse.“ Er wollte was erwidern, aber sie hob die freie Hand und brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Fordere mich nicht heraus. Ich hatte einen beschissenen Abend.“ Sie warf ihn fort wie ein benutztes Taschentuch. Heftete ihren Blick auf Sventje, die sich kläglich in der Ecke ihres Sitzes zusammenkauerte. „Die Daten. Geschäftsunterlagen, sagtest du?“
Die junge Frau zuckte mit den Schultern und rang die Hände. „Alles, was mit dem Scheiß zu tun hat. Lieferanten, Pusher, Boten, Bilanzen, Rezepte, Transportrouten, Kontakte. Alles.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ja, ich hab gut davon gelebt, dass mein Ex Drogen pusht, weiß ich auch. Aber…“ Sie suchte nach Worten, fuhr dann mit einem schweren Seufzen fort: „Das Kind von jemandem, der mir viel bedeutet, liegt wegen ‚Roter Gefahr‘ im Koma. Wegen dem Fentanyl. Die Prognosen stehen nicht gut, sagen die Ärzte. Selbst wenn er jemals wieder zu Bewusstsein kommt, wird sein Hirn wohl dauerhaft geschädigt sein.“
„Also wolltest du die Daten nutzen, um ihm das Handwerk zu legen?“, bohrte Isa weiter. „An die Cops übergeben oder an die Presse?“
„Ich weiß es auch nicht.“ Sventje zuckte die Schultern. „Vielleicht wollte ich einfach eine Versicherung, damit Bambam mir nichts tut, wenn ich ihn verlasse.“
Diablo bedachte Kolja mit einem ihrer Kommandanten-Blicke, dann sagte sie: „Hat nur nicht funktioniert. Dein Glück war, dass dein Ex ausgerechnet Cowgirl und mich angeheuert hat. Könnte sein, dass du aus der Nummer halbwegs unbeschadet rauskommst. Und ich hab wahrscheinlich die Kontakte, um deinem Ex so richtig die Tour zu vermasseln. Aber dann brauchen wir diese Daten.“
Sventje musterte sie, dann sagte sie: „Wenn ich dir die Unterlagen gebe, welche Sicherheit habe ich dann, dass du die nicht direkt zu Bambam bringst.“
„Du hast keine Sicherheiten“, erwiderte Diablo geradeheraus. „Das hier ist eine Vertrauensfrage. Aber so wie die Dinge stehen, hast du vielleicht keine große Wahl. Wenn wir dich belügen und du uns die Daten vorenthältst, würde uns nichts davon aufhalten, dich einfach zu deinem Ex zu schleifen. Aber wenn wir die Wahrheit sagen und du uns die Daten gibst, dann rettest du mit hoher Wahrscheinlichkeit ‘ne Menge Leben.“
„Nächster Halt: Hauptbahnhof“, sagte der Zug nüchtern, „Umsteigemöglichkeit zu den Regionalzügen und zum Fernverkehr.“
Diablo blickte nach oben, wo sie die Lautsprecher vermutete. Sagte wie beiläufig: „Endstation für dich. Was soll’s also sein, Sventje?“
Die Angesprochene schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Schien ihre Optionen abzuwägen, nur einen Moment lang. „Fuck.“ Dann öffnete sie ihre Handtasche und zog einen Datenstick heraus. Hielt ihn Diablo hin. „Versprich mir, dass du das richtige tust.“
Die Freelancerin griff danach. Die schwarze militärische Panzerung ihrer Prothese strich über das kühle Aluminiumgehäuse des Sticks. Mit einem Lächeln sagte sie: „Danke. Du hast in jedem Fall den richtigen Schritt gemacht.“ Sie blickte zu den Türen des Waggons, die sich gerade am Bahnsteig öffneten. „Los, verzisch dich. Wir kümmern uns um Kolja.“
Während Sventje in das nächtliche Treiben des Hamburger Hauptbahnhofs verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen, hielt Isa Kolja mit der freien Hand zurück, damit dieser der Frau nicht folgen konnte. Diablo nestelte ihre Dogtags aus dem Konzernkrieg unter ihrer Lederjacke hervor, verkratzter Edelstahl mit einem in hellblauen Acryl eingeschlossenen RFID-Chip an einer feinen Kugelkette. Sie öffnete die Kette und fädelte sie durch die Öse an dem Datenstick, ehe sie alles wieder unter der Jacke verschwinden ließ. Bis sie damit fertig war, hatte die S-Bahn ihre Fahrt fortgesetzt.
Kolja brach das Schweigen, indem er Isas Hand beiseite schob und grinsend die Hände hinter dem Kopf verschränkte. „Ich glaub’s einfach nicht, wie smooth du der Fotze den Stick aus den Rippen geleiert hast. Fahren wir zu Bambam, dann kann er euch auszahlen.“
Sie schüttelte bedächtig den Kopf, sagte langsam und mit drohendem Unterton: „Ich glaube nicht, dass ich das tun werde, Kolja.“
Er setzte sich auf und musterte sie fragend. „Kommst du mir jetzt mit Prinzipien oder was? Niklas ist für den Scheißstick drauf gegangen.“
„Nein, Kolja“, erwiderte sie sanft, „Niklas ist drauf gegangen, weil Typen wie du und Bambam einen feuchten Furz auf Menschenleben geben. Euch geht es nämlich nur darum, was am Ende des Tages an Geld bei rausspringt. Typen wie du sind der widerliche Dreck unter den Fingernägeln unserer Gesellschaft, opportunistische Ausbeuter, die Menschen nur als Werkzeuge oder Geldautomaten auf zwei Beinen sehen. Niklas ist dir am Ende des Tages völlig egal. Sein Tod kommt dir nur gerade gelegen, um Cowgirl und mich emotional zu erpressen. Aber das läuft nicht.“
Er starrte sie mit offenem Mund an. Brauchte eine ganze Weile, bis er den vollen Sinn ihrer Rede erfasst hatte. Dann lief er knallrot an, sprang auf und griff nach der Waffe in seinem Hosenbund. „Du verdammte…“
Isa war schneller. Der Lauf ihrer 45er bohrte sich schmerzhaft von hinten in seinen Sack. Dazu sagte sie kalt: „Mach jetzt keine Dummheiten, Kleiner, sonst verteile ich dein bestes Stück über die Speicherstadt. Wirf deine Bleispritze in den Mülleimer. Aber ganz langsam. Keine hektischen Bewegungen. Ich hab einen unruhigen Abzugsfinger.“
Diablo konnte hören, dass er wütend mit den Zähnen knirschte, für einen winzigen Moment seine Chancen durchrechnete. Kleine Schweißtropfen auf der Stirn, Geruch von Moschus. Seine Angst siegte. Er öffnete mit der linken Hand den Müll unter dem kleinen Tischchen am Fenster und versenkte seine Waffe darin.
„Du steigst am nächsten Halt aus“, sagte sie, sobald er den Behälter wieder geschlossen hatte. „Und ich rate dir, nicht hinter Sventje herzufahren. Wenn wir rauskriegen, dass du ihr nachstellst, weil du nicht die Eier hast, deinem Boss zu sagen, dass du deinen Teil des Gigs auf ganzer Linie versaut hast, kommen wir dich suchen.“ Obwohl sie saß und zu ihm hochschauen musste, schaffte sie es, den nächsten Satz bedrohlich klingen zu lassen. „Und ich bin verdammt gut darin, kleine Verräter zu finden. Hab im Konzernkrieg nichts anderes gemacht.“
Er schluckte und nickte. Sagte, obwohl ihre Äußerung keine Frage gewesen war: „Kapiert.“
Sie ersparte sich die Antwort. Begnügte sich damit, ihn nieder zu starren. Als der Zug schließlich im nächsten Bahnhof zum Stehen kam, konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen, auf den Bahnsteig raus zu kommen. Weg von Diablo und Isa. Blickte sich nicht einmal nach ihnen um, ob sie ihm vielleicht folgten.
Als der Zug wieder anfuhr, wechselte Isa den Sitz und nahm neben ihr Platz. Während sie Koljas Waffe aus dem Müll fischte, sie sachgemäß sicherte und die Munition entfernte, sagte sie kopfschüttelnd: „Was für ein Klub formvollendeter Arschlöcher.“
Diablo nickte langsam. Sagte mehr zu sich selbst: „Wäre ziemlich schmutziges Geld gewesen. Voller Blut.“
Isa musterte sie von der Seite. „Hast du Zweifel an deiner Entscheidung?“
„Nein, war schon richtig so.“ Sie seufzte. „Ist nur so, dass man sich Prinzipien leisten können muss. Und eigentlich bin ich gerade finanziell nicht unbedingt so aufgestellt, dass ich es kann.“
„Dann lade ich dich ein. Nach dem Gig brauch ich ‘n gutes Stout und gute Gesellschaft.“ Isa stieß ihr in die Seite. „Ich weiß, du hast Verpflichtungen und so, aber ich will noch nicht nach Hause. Muss die Show gerade erst mal dekomprimieren.“
„So schlimm mit Christian?“, fragte Diablo, lenkte aber sofort ein, als Isa ihr „wir hatten eine Vereinbarung“-Gesicht aufsetzte. „Ich weiß, ich weiß. Wir reden nicht über das Milchbrötchen oder mein kleines Projekt.“ Sie nickte. „Aber geht schon klar. ‘n bisschen Zeit hab ich noch. Die Mistral steht eh an der Sternschanze, und da wimmelt’s sicher gerade von Uniformierten.“ Sie unterbrach sich, überlegte kurz und sagte dann: „Ich will Bambam aus dem Verkehr ziehen. Der Stick ist eine Sache, den werde ich an meine Kontakte weiterleiten. Aber der Typ braucht ‘ne Lektion. Und so wie die Aktien stehen…“
Isa nickte. „Du willst keine Gewalt anwenden, schon klar. Und du hoffst, dass der Bastard mir genauso auf die Eierstöcke geht wie dir, ich aber weniger Skrupel habe, mein Schießeisen zu benutzen.“ Sie lächelte schief. „Kannst auf mich zählen.“
„Danke“, sagte Diablo. „Echt jetzt.“
Isa winkte ab. „Dafür sind Freunde da.“ Sie stupste Diablo in die Seite. „Und jetzt haben wir Feierabend.“
Hatte man in diesem Geschäft nie, wusste Diablo. Aber man konnte es sich zumindest für ein paar Stunden selbst einreden.