Die Rollen von seinem Board erzeugen ein reißendes Geräusch auf dem schartigen Beton der Halfpipe. Er zählt die farbigen Striche der Graffiti, die unter ihm zu einem wilden Regenbogen verschmelzen. Markierungen, die ihm sagen, wann die Wanne enden wird. Dann steigt er in die Luft auf, liefert den perfekten Three-Sixty ab und schafft es sogar, die leicht schiefe Landung auf dem Vert gleichzeitig gewollt und gekonnt aussehen zu lassen, ohne sich aufs Maul zu legen. Jubel von den anderen am Rand der Bahn, er wirft sich auf dem Flat in Siegerpose, ehe er in die Hocke geht, um Schwung für den nächsten Trick zu holen. Die Show ist wichtig, einer der Jugendlichen hat eine kleine Drohne und streamt ihn live ins Netz.
Der Skatepark ist alt, hat sein Opa ihm erzählt. Früher war dieser Moloch, der sich in ein Gleisdreieck der Güter- und Hafenbahnen Duisburg duckt, ein Stahlwerk. Teile davon wurden vor achtzig Jahren, als die Zechen starben und deutscher Stahl zu teuer wurde, nach China verkauft, der Rest zu einem Naherholungsgebiet umgebaut. Wanderwege mit Skulpturen, Grillplätze, Kletterpark, Schwimmbad in der Kohlenwäsche und diese Ecke zum Skaten. Dazwischen ein Fanal aus alten Bessemerbirnen und Torpedopfannen, die an Damals erinnern sollen, als laut der Großeltern „alles besser“ war. Das ganze Klimbim. Deutsche Wochenend-Kultur für den sterbenden Mittelstand.
Jetzt erinnern nur noch rostrote Stahlskelette und stockfleckige Backsteinhallen an die ehemalige Montanindustrie, und alles ist bis auf eine Höhe von vier Metern mit Grafitti voll geschmiert. Brombeeren, Herkulesstauden und wildes Gras haben alles hier überwuchert. Offiziell darf man nicht rein, die Stadt hat das Gelände vor seiner Geburt eingezäunt, weil alles baufällig ist. Interessiert aber niemanden, weil’s in diesem Teil von Duisburg sonst keine Orte gibt, an denen man nachmittags abhängen kann. Und der Sicherheitsdienst von der Werbeagentur, die ihre schicken klimatisierten Büros im Gasometer an der Straße hat, drückt ein Auge zu.
Das Leben fände immer einen Weg, sagt sein Opa, und wie es ihn freut, dass der Arbeitsplatz seines Vaters so weiter genutzt wird. Marios Urgroßvater kam als Gastarbeiter aus Italien, hat ewig für die RAG Hochöfen angestochen. Geschichte, die ganze Region. Darf man nicht vergessen, mahnt sein Opa, die Geschichte und Herkunft.
„Hey Mario!“, ruft Nadia vom Rand der Halfpipe.
Er kommt auf dem Coping zum Stillstand und hebt schlacksig die Hand, ehe er absteigt. Klemmt das Board unter den Arm, dann die Betonstufen hinunter, die Brenneseln mit dem Deck sanft beiseite schieben. Sie drückt ihn an sich, er erstarrt unter der Geste, Nähe ist nicht sein Ding. Konzentriert sich auf ihre Körperwärme, auf den Geruch ihres Shampoo, irgendwas mit Vanille und einem dezenten Blumenduft. Dann lässt sie ab von ihm und streicht sich mit einem Lächeln eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht.
„Sah gut aus“, sagt sie und meint es ehrlich.
Er zuckt die Schultern. „Geht schon.“ Mustert sie mit schief gelegtem Kopf und gerunzelter Stirn. Fragt sich wie immer, was sie bloß an ihm findet. „Ich hab Limo dabei. Wenn du willst.“ Kopfnicken zu seinem Rucksack, der auf einem runter geranzten Sofa liegt, das ein paar der älteren Jungs vom Sperrmüll gerettet haben.
„Cool“, sagt sie und deutet auf ein Stück Wiese, wo der Wildwuchs nicht so hoch steht, weil darunter mal ein Sandkasten war. „Ich warte am Strand auf dich.“
Kurz darauf liegen sie nebeneinander im Gras, ihr Kopf auf ihrem unvermeidlichen Messenger Bag, seiner auf der ausgebleichten Jeansjacke. Über ihnen azurblauer Himmel zwischen den Ruinen des untergegangenen Industriezeitalters. Irgendwo links zirpt eine Grille. Auf dem Rhein brummt ein Lastkahn vorbei; sie fühlen den schweren Schiffsdiesel mehr im Bauch als dass sie ihn hören. Wassertropfen kondensieren auf den Glasflaschen in ihren Händen, er kann das leise Prasseln der Kohlensäurebläschen spüren. Das Wetter macht schläfrig.
„Sybil hat mir getextet“, sagt sie unvermittelt in die Stille hinein.
Die Sonne rot hinter seinen geschlossenen Lidern. Er will nicht antworten. Tut es trotzdem. „Was will unser Orakel?“
„Hat wieder einen Cache aufgetan, im Rheinpreußenhafen.“
Er ist überrascht, fragt: „Auf dem Holländer?“ Das Schiffswrack kennt in Ruhrort jeder, ein Schüttgut-Leichter unter niederländischer Flagge, der vor Jahren Feuer gefangen hat und gesunken ist.
„Lag die ganze Zeit direkt unter unseren Nasen, sagt sie.“ Nadia tastet nach seiner Hand. Er lässt es zu, ihre Finger verhaken sich ineinander. Vom Bahndamm schallt das Horn eines Güterzugs herüber. „Sie fragt, ob wir helfen, das Zeug zu bergen.“
Er dreht ihr den Kopf zu, sucht ihren Blick. Ihre Augen, von Zeiss, sind zu blau. Geschenk ihres Patenonkels, als die alten nicht mehr wollten. Gibt kaum ein deutlicheres Zeichen des sozio-ökonomischen Gefälles zwischen ihnen: maßgeschneiderte Implantate anstelle einer Prothese auf Rezept.
„Was ist drin?“, fragt er.
Nadia zuckt die Schultern. „Medikamente, sagt sie. Der Tipp kam wohl von einem Arzt im Innenstadt-Krankenhaus. Er nimmt uns den Cache auch ab.“
Er schüttelt den Kopf. Extrahiert seine Hand aus ihrer und stemmt sich auf den Ellbogen hoch. „Nein, ich meine, was ist für uns drin?“ Die Klinik kämpft schon ewig mit Kürzungen bei den Geldern, weiß er. Finanziell ist da nichts zu holen. Nicht dass er’s überhaupt angenommen hätte. Ärzte sind wichtig. Sich mit Ärzten gut zu stellen unbezahlbar.
„Außer dem guten Gefühl, was für die Community getan zu haben?“ Sie lacht leise. „Sybil sagt, du hast nach dem Gig einen Hack frei, eine Datenbank oder Info nach deiner Wahl.“
Er kriegt Gänsehaut, trotz der Sonne. Das Johlen der Jugendlichen am Skatepark rückt in ewig weite Ferne. Sybils Angebot eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, die Suche nach seinem kleinen Bruder wieder aufzunehmen. Sie waren noch Kinder, als Carlo verschwunden ist. Hat seine Familie zerstört. Wenn er nur irgendwas über seinen Bruder rauskriegen könnte, würde es seiner Mutter vielleicht den Abschluss geben, den sie braucht. Damit sie sich nicht mehr selbst auflösen muss.
Er kann die Tränen spüren. Schluckt hart, um sich keine Blöße zu geben, fragt: „Und du?“
Nadia bleibt die Antwort schuldig. Er fragt nicht noch einmal nach. Ist nicht notwendig. Ihre multiple Sklerose ist die tickende Zeitbombe im Herzen ihrer Freundschaft. Das einzige, was ihre Familie nicht mit Geld verschwinden lassen kann.
Diesmal greift er nach ihrer Hand, völlig gegen Typ. Leise sagt er: „Bin dabei.“ Als ob er eine Wahl hätte.